Themenkreis Inklusion und gesellschaftlicher Zusammenhalt Fachaustausch zu „Soziale Kohäsion im Wiederaufbau der Ukraine“
Kurz nach dem russischen Angriffskrieg sei der Wert sogar auf 6,6 geschnellt, erklärt Olena Siletska, Forschungsleiterin bei Partnership Fund for a Resilient Ukraine (PFRU (Externer Link)).
Die Organisation bringt die ukrainische Regierung mit einigen ihrer engsten internationalen Regierungspartner zusammen, um Projekte in befreiten Gebieten an der Frontlinie durchzuführen und dadurch die Widerstandsfähigkeit der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg zu stärken.
Siletska und ihr Team haben dadurch konkrete Forschungsergebnisse gewinnen können, wie Bewohner*innen befreiter Gebieter den Wiederaufbau wahrnehmen.
Gemäß ihrer Operationalisierung setzt sich soziale Kohäsion aus drei Dimensionen zusammen: Dem physischen, dem sozialen beziehungsweise ökonomischen und dem psychologischen Wiederaufbau.
In der ersten Dimension wollen die Menschen ihre physische Umgebung, ihre Kommune und ihr Land wiederaufbauen, im besten Fall sogar besser als zuvor („build back better“).
In der zweiten Dimension geht es darum, Voraussetzungen zu schaffen, dass Menschen in ihrer Umgebung bleiben beziehungsweise dorthin zurückkehren können. Davon berührt sein können das Bildungssystem, die Bewahrung oder Wiederherstellung kultureller Einrichtungen und Veranstaltungen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen und Anziehung von Investitionen.
Die dritte Dimension bezieht sich schließlich auf die Förderung mentaler Gesundheit und Achtsamkeit, vor allem mit Blick auf bestehende und erlebte Kriegsgeschehnisse.
Die PFRU messe, so erklärt Olena Siletska, soziale Resilienz auf der nationalen als auch lokalen Ebene und nutze dafür verschiedene Ansätze. Mit Blick auf die nationale Ebene und unter Verwendung quantitativer Methoden konnte so zusammen mit USAID, UNDP und weiteren Partnern 2022 erstmalig der SHARP-Report erstellt werden, der seitdem jährlich erschienen ist. SHARP stehe dabei für Score-inspired Holistic Asessement of Resilience of Population („Punktestand-inspirierte ganzheitliche Bewertung der Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung“).
Der analytische Rahmen des Berichts zu sozialer Resilienz beruht auf den fünf Säulen Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Sicherheit, Infrastruktur am Wohnort, Nachhaltiges Management und Beteiligung sowie zuverlässiger Informationsfluss, die in sich noch einmal untergliedert sind.
Nachdem Olena Siletska mit dem SHARP-Report den übergeordneten Rahmen vorgestellt hat, verlagert sie ihren Vortrag auf die erste Säule, den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und kommt damit auch wieder auf die eingangs genannte Zahl zurück: 6,2.
Diese setzt sich aus vier Kategorien mit unterschiedlichen Zahlen zusammen: Identifikation – einerseits zum Land selbst, andererseits zur pluralistischen ukrainischen Identität – stellt mit 8,7 von 10 den höchsten Wert dar, das Schlusslicht bildet das Vertrauen in Institutionen mit 4,4 von 10. Dazwischen liegen sowohl die Orientierung als auch das Handeln für das Gemeinwohl.
Der gesellschaftliche Zusammenhalt bleibt auch im Bericht von 2024 stark, auch wenn das Vertrauen in zentrale Institutionen gesunken ist. Das Vertrauen in lokale Institutionen bleibt weiterhin stabil, vor allem in frontnahen Gebieten. Die Frage aus dem Publikum, ob es insgesamt große Unterschiede zwischen frontnahen und -fernen Regionen gebe, verneint Siletska. Den größten Einfluss auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt habe eben jenes Vertrauen in lokale und zentrale Institutionen, der Glaube daran, dass sich Institutionen um die Bevölkerung kümmern, die gesellschaftliche Toleranz und die Zusammenarbeit innerhalb von Gemeinschaften.
Als Treiber für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dürften aber auch nicht die vermeintlich niedrig angegebenen Kategorien übersehen werden. Als Beispiel nennt Siletska das Bewusstsein über internationale Unterstützung:
„Wir sehen, dass die Menschen, die berichtet haben, internationale Unterstützung bekommen zu haben, sich deutlich sicherer fühlen, was ihre materielle und finanzielle Situation und die Gesundheitsversorgung angeht. Außerdem sind sie zufriedener mit ihren öffentlichen Einrichtungen, was, wie wir gesehen haben, einen großen Einfluss auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat. Außerdem geben diese Menschen (...) eher an, dass sie ein höheres Maß an Verfügbarkeit von Mechanismen des bürgerschaftlichen Engagements und von Gemeinschaftsaktivitäten haben.“
Im Anschluss an Olena Siletskas Vortrag stellen andere Organisationen ihre konkreten Arbeitsbeispiele vor:
Magdalena Kilwing von der Johanniter Auslandshilfe wirft unter anderem ein Schlaglicht auf Überlebende kriegerischer und häuslicher Gewalt und wie ihre Organisation mit ukrainischen Partner*innen daran arbeitet, betroffenen Menschen, allen voran Frauen und Kindern, psychologische Unterstützung zu geben, ihnen sichere Aufenthaltsorte zu bieten und sie bei der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten zu unterstützen – und ihnen so die Reintegration in die Gesellschaft zu erleichtern. Ihr Partner Eleos (Externer Link) verfügt über ein breites Netzwerk und kann dadurch die betroffenen Kinder und Frauen umfassend beim Aufbau eines neuen Lebens unterstützen.
Mehr zur Arbeit der Johanniter Auslandshilfe in der Ukraine: Die Auslandshilfe in der Ukraine und den Nachbarländern (Externer Link).
Kostiantyn Batrak von HelpAge International zeigt, wie (vertriebenen) älteren Menschen – darunter auch vermehrt Menschen mit Mobilitätsproblemen in ländlichen Gebieten – geholfen wird und beispielsweise deren kriegsbedingte Isolation durchbrochen werden soll. Auch in seiner Arbeit geht es um die Schaffung psychologischer Unterstützungsangebote oder die Bereitstellung sicherer Aufenthaltsorte: In Lwiw unterstützen sie beispielsweise ältere vertriebene Menschen darin, Gruppenaktivitäten in Gemeinschaftszentren und Parks zu organisieren und dadurch neue Freundschaften entstehen zu lassen. Sein Fazit? „Selbst während des Kriegs kann man den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern!“
Studie von HelpAge International darüber, wie physische, soziale und psychologische Barrieren ältere (kriegsvertriebene) Ukrainer Gemeinschaftsleben ausschließen: Disrupted Social and Spatial Community Connections – HelpAge International (Externer Link)
Zuletzt berichtet Julia Teek über die Arbeit der Robert Bosch Stiftung GmbH: Seit August 2024 gibt es in ihrer Organisation einen neuen Ukraine-Bereich, der sich neben Themen wie mentaler Gesundheit und dem grünen Wiederaufbau auch Fragen zu Identität und Schutz von Kultur widmet. Vor Ort arbeitet die Stiftung beispielsweise mit Meridian, deren Mitarbeiter*innen nicht nur das 15. Europäische Literaturtreffen Meridian Czernowitz organisiert haben, sondern auch an zahlreichen weiteren Kulturveranstaltungen in Odessa, Mykolajiw und Cherson beteiligt sind.
„Meiner Meinung nach ist das eine wirklich dringende Antwort auf das Bedürfnis der Zivilgesellschaft nach gemeinschaftlichem Dialog, kultureller Verständigung und darüber hinaus in Zeiten des Krieges nach Selbstbehauptung.“
Mehr dazu: Unser Ukraine-Engagement (Externer Link)