Themenkreis Transparenz und Gute Regierungsführung Fachaustausch „Zivilgesellschaftliche Kontrolle im Wiederaufbau der Ukraine“
Yurii Romashko vom IAA beginnt seinen Vortrag. An der Wand hinter ihm sieht man eine Replika des Gemäldes „Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief“ des bekannten Malers Ilja Repin. Drei Ziele verfolgt seine Organisation mit dem Report, den er heute vorstellt. Zumindest mit der ersten Phase des Reports, denn 2024 startet die zweite Etappe.
Drei Ziele also. Erstens: Die Bedeutung der ukrainischen Zivilgesellschaft beim Wiederaufbau der Ukraine herausarbeiten. Zweitens: Die zentralen Herausforderungen festhalten, vor denen ukrainische Nichtregierungsorganisationen (NRO) seit Beginn des russischen Angriffskriegs stehen. Und schließlich, drittens, eine Übersichtskarte der NROs zu erstellen, die auch für Geberorganisationen hilfreich sein kann.
Eben jene Liste blendet Romashko in Ausschnitten ein: Die schiere Masse an Organisationen, die sich in diversen Arbeitsfeldern tummeln, beeindruckt die Teilnehmer*innen. Die NROs übernehmen Kontrollfunktionen mit Blick auf staatliche und privatwirtschaftliche Tätigkeiten, analysieren die aktuellen Lagen, helfen bei der Gesetzgebung, überprüfen Fakten, bieten psychosoziale Unterstützung und betätigen sich wohltätig. 75 Prozent der NROs haben kriegsbedingt ihre Arbeit angepasst oder auch ausgeweitet. „Die Zivilgesellschaft ist ein zentraler Akteur in der Ukraine, wenn es um die Wahrung der demokratischen Ordnung geht“, resümiert Romashko.
Doch es geht in seinem Vortrag nicht nur um die Leistungen und Wirkungen dieser Organisationen, sondern auch um deren Herausforderungen. Fehlendes Geld im Haushalt beispielsweise. Unzureichende Unterstützung durch andere Akteur*innen und fehlender Zugang zu wichtigen Informationen. Und schließlich auch der Mangel an qualifiziertem Personal.
Romashko nennt auch die Empfehlungen, die der Bericht gibt. Ukrainische NROs stärker in die Geberkoordinierungsrunden einzuladen. Auf die existierenden Koalitionen ukrainischer NROs zu bauen. Und DREAM zu nutzen. DREAM (Externer Link), kurz für Digital Restoration EcoSystem for Accountable Management. Er meint damit die digitale Plattform, die durch RISE Ukraine (Externer Link) und die ukrainische Regierung initiiert wurde und eine transparente und effiziente Umsetzung des Wiederaufbaus auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene anvisiert.
Im zweiten Vortrag nimmt Dr. Marie-Carin von Gumppenberg von PTF Europe die Teilnehmenden von der nationalen auf die lokale Ebene mit. Sie stellt eine Studie vor, die sie in Zusammenarbeit mit dem Balkan Investigative Reporting Network (BIRN (Externer Link)) und dem Komitet vybortsiv Ukrajiny – Odeska oblasna organizacija (Wählerkommittee der Ukraine – Niederlassung Oblast Odessa (Externer Link)) erstellt hat. Hierfür haben sie Bürgermeister*innen aus sechs Kommunen in der südlichen Oblast interviewt, öffentlich zugängliche Informationen von Datenbanken und vorhandene Studien analysiert und die ukrainische Medienlandschaft durchforstet.
Von Gumppenberg unterstreicht, wie wichtig die Arbeit des IAA ist, eine Landkarte der zahlreichen NRO-Akteure zu erstellen. Auch sie erwähnt DREAM, da dadurch Kommunen sichtbarer werden können. Nicht, dass Sichtbarkeit das Ziel wäre. Aber weil ihnen Mittel durch Unsichtbarkeit entgehen. Manche Kommunen haben laut von Gumppenberg eigene Websites aufgesetzt, manche nutzen soziale Medien, um sich ins Bewusstsein der Entscheidungsträger*innen zu rufen. Manchen fehlen dafür aber auch die Kapazitäten. Wenn DREAM genutzt werden kann, kann ein wichtiger Beitrag zu mehr Transparenz geleistet werden.
Die Kommunen stehen aber auch vor Herausforderungen physischer Natur, denn sie sind durch die russischen Angriffe unterschiedlich stark zerstört. So kategorisiert die „Study of Recovery Initiatives in Ukraine (Externer Link)“ (Kyiv International Institute of Sociology, Juni 2023) Kommunen in zehn Stufen, von bedingt sicher bis vollständig zerstört. Je nachdem, in welcher Kategorie sich die Kommune nun befindet, empfiehlt die Studie, den Wiederaufbau anders anzugehen. Geht es um die Instandsetzung kritischer Infrastruktur? Die Berücksichtigung aller Bevölkerungsgruppen? Die Beachtung der ökologischen Nachhaltigkeit? Oder alles davon und noch mehr?
Im Vortrag wird auch der Lebenszyklus in fünf Phasen (Externer Link) eingeblendet, den Transparency International (TI) Ukraine für den Prozess eines Wiederaufbauprojektes erstellt hat. Von Gumppenberg hält fest: „In jedem dieser Schritte sind Korruptionsrisiken denkbar. Und daher ist die Rolle der Zivilgesellschaft mit ihrer Kontrollfunktion essenziell und auch wirksam.“
Was empfiehlt PTF Europe also mit Blick auf ihre eigene Studie? Die Zivilgesellschaft sollte Transparenz, Partizipation und Rechenschaft im Wiederaufbau weiterhin als essenzielle Prinzipien sicherstellen. Wie? Indem sie einzelne Wiederaufbauprojekte monitort und Kommunen in ihrem Prozess unterstützt, transparenter und inklusiver zu werden. Und indem sie selbst Verantwortung übernimmt. Die Zivilgesellschaft sollte nur nicht das Rad neu erfinden: Stattdessen könnte sie die umfassenden Erfahrungen bei der Vergabe in der Ukraine und in der Stadtplanung aus Nachbarländern der Ukraine einfließen lassen.
Die Fragerunde zeigt, wie sehr die beiden Vorträge auf Interesse stoßen. Die Initiative von DREAM wird gelobt. Es wird allerdings auch in Frage gestellt, ob alle Kommunen, aber auch alle Geber davon Gebrauch machen werden können. Das wird die Praxis zeigen, so die Rückmeldung. Und damit wird allen Beteiligten des Wiederaufbaus der Ukraine ein Teil der Verantwortung übertragen, sich in dieses digitale Ökosystem einzubringen und es zu einem Erfolg werden zu lassen.
Derzeit wird an der Entwicklung eines Rechtsrahmens für die Nutzung des Systems gearbeitet. Bis dahin wird es bereits auf Pilotbasis genutzt, um Projekte zu finanzieren und damit die Folgen des russischen Angriffskriegs zu beseitigen.
Auch die Arbeit der beiden Vortragenden wird gelobt, denn angesichts der Masse an länger bestehenden und neueren NROs ist es essenziell, sich auf geprüfte Datenbanken und aktuelle Studien stützen und damit eigene Vorprüfungen von NROs vermeiden oder zumindest reduzieren zu können.
Bevor sich die Teilnehmenden in den Feierabend verabschieden, rückt ein Zuhörer noch eine gesellschaftliche Gruppe in der Ukraine in den Fokus: Die Rom*nja. Wie werden diese wie auch andere Gruppen in den Wiederaufbauprozess eingebunden? Frau von Gumppenberg verweist hier auf die Leitlinien für feministische Außen- und Entwicklungspolitik der Bundesregierung (Externer Link)und nennt sie als gutes Beispiel für alle Beteiligten: Im Wiederaufbau müssen alle Bestandteile der Gesellschaft eingebunden werden. Ältere Menschen, Kinder und Jugendliche. Menschen mit Behinderungen, Traumatisierte. Und natürlich gehört es auch dazu, die unterschiedlichen Gruppen und ethnischen Minderheiten in der Ukraine mitzunehmen. Eben alle.
Hier den Leitfaden des Institute of Analytics and Advocacy herunterladen: Civil Society in Ukraine`s Restoration (Externer Link)