Plattform Wiederaufbau Ukraine

Themenkreis Städtischer und kommunaler Wiederaufbau Fachveranstaltung zu „Integrierte Stadtentwicklung in der Ukraine. Hintergründe und Herausforderungen“

„Ukrainische Städte, Dörfer, Gemeinden sind fast täglich Ziel russischer Angriffe, wodurch massive Schäden an der kommunalen Infrastruktur entstehen. Viele dieser Orte müssen ganz oder teilweise wiederaufgebaut werden und sollen gleichzeitig inklusiver, moderner und nachhaltiger gestaltet werden, nach dem Prinzip 'build back better'.“

So leitet Marta Pastukh vom Sekretariat der Plattform Wiederaufbau Ukraine die Fachveranstaltung zum Thema integrierte Stadtentwicklung in der Ukraine ein. Zwei Expert*innen geben am Beispiel von Lwiw einen Überblick über die Entwicklung integrierter Stadtplanung, von ihren Anfängen vor rund 15 Jahren bis zu den heutigen Herausforderungen im Krieg.

Iris Gleichmann schildert den rund 50 Teilnehmenden ihre Erfahrungen in der Ukraine

Iris Gleichmann schildert den rund 50 Teilnehmenden ihre Erfahrungen in der Ukraine.

Iris Gleichmann schildert den rund 50 Teilnehmenden ihre Erfahrungen in der Ukraine.

Iris Gleichmann beginnt mit ihrem Vortrag. Sie ist Diplom-Ingenieurin und verfügt über jahrzehntelange Erfahrung im Bereich der Stadtplanung, unter anderem sechs Jahre als Projektleiterin in der Ukraine. Das 2009 gemeinsam mit dem Bürgermeister von Lwiw gesteckte Ziel war es, „mit der Bevölkerung […] zusammen die Ziele [der Stadtentwicklung] zu entwickeln und […] die Lücke zwischen Verwaltung und Öffentlichkeit zu schließen.“ Durch kleinere, aber gut sichtbare Sanierungsprojekte an Türen und Toren in der Altstadt habe man „von Anfang an ein Verständnis und ein Vertrauen geweckt“. So sei es gelungen, zivilgesellschaftliche Akteur*innen produktiv in die Prozesse einzubinden und zu einem Teil der Stadtentwicklung werden zu lassen.

Als Antwort auf die Mittelknappheit und die nicht immer enge Zusammenarbeit zwischen kommunaler und staatlicher Ebene habe das Projekt lokale Förderprogramme ins Leben gerufen, die nach dem Vorbild Deutschlands kleinere Sanierungsmaßnahmen mit geteilten Kosten zwischen Stadt und Bürgern ermöglichten. „Und das eigentlich immer mit der Idee, dass man es lokal ausprobiert und vielleicht […] national dafür eine Aufmerksamkeit findet.“

Positiv bewertet Iris Gleichmann eine dadurch erst ermöglichte stärkere Unabhängigkeit bei der Mittelverwendung. Und das nicht nur in den Städten selbst, sondern auch über ihre Grenzen hinaus: „[…] nicht nur ein städtisches […] begrenztes Denken, sondern stärker auch mit Nachbarschaften, stärker auch mit Kooperationen zu denken. […] Ich glaube, das ist absolut wesentlich […], dass viel kleinere Städte und Gemeinden […] in der Position sind, selber Entscheidungen, für sich, lokal, treffen zu können.“

Iris Gleichmann

Präsentation von Iris Gleichmann

Sie geht auch auf die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen ein und erwähnt dabei die „Maisternia mista (Externer Link)“ (Stadtwerkstatt). Diese wird seit 2012 jährlich in Lwiw in Form eines Holzpavillons aufgebaut, in dem für einige Zeit Stadtentwicklungsthemen veranschaulicht und diskutiert werden. Gleichmann beschreibt sie als einen Ort für „Beteiligung, Kommunikation, Selbsterfahrung und Netzwerkbildung“. Eine Idee, die mittlerweile von diversen anderen ukrainischen Städten wie Chernivtsi, Poltava und Zhytomyr aufgegriffen wurde.

Siehe auch
Städte und urbane Räume müssen auf Belastungen reagieren, sich daran anpassen und sich schnell wieder erholen können.

Urbane Resilienz Interner Link

Dass die Implementierung integrierter Stadtentwicklungskonzepte auch oder gerade in Kriegszeiten hilfreich sein kann, wird durch den Vortrag von Prof. Dr. Detlef Kurth (RPTU Kaiserslautern-Landau) in einer früheren Veranstaltung im Themenkreis Städtischer und kommunaler Wiederaufbau deutlich: „(…) letztlich denken wir, dass eine dezentrale Struktur erfolgreicher ist als eine zentralistische“.

Die positiven Ausstrahlungen lokaler Förderprogramme sieht auch Anton Kolomieitsev, Chefarchitekt von Lwiw und zweiter Referent in der Veranstaltung: „Ich kann nur bestätigen, dass das Projekt […] sehr vieles in unserer Stadt geändert hat. Die Transformationsprozesse, die damals gestartet sind, sie dauern noch heute [an].“ In seiner Präsentation unter dem Titel „Verantwortung übernehmen: Herausforderungen der Stadtentwicklung in der Kriegszeit“, beleuchtet er die jüngsten Entwicklungen integrierter Stadtentwicklung und die Herausforderungen seit Ausbruch des Krieges.

Er erklärt den Teilnehmenden das Prinzip der Innenverdichtung beziehungsweise intensiven Stadtplanung: „Wir wollten […] die Philosophie von […] Raumplanung und […] Stadtentwicklung beeinflussen.“ Denn im alten Masterplan von 2010 habe das Prinzip der „Stadtentwicklung nach außen“ dominiert. „Diese extensive […] Raumentwicklung braucht natürlich neue Infrastruktur, mit sehr vielen Ressourcen, und ist nicht besonders rational im Sinne [der] Stadtplanung.“

Die intensive Stadtentwicklung hingegen setze auf die „aktive Nutzung von Raumressourcen, die wir schon in der Stadt haben, die wir nicht genug benutzen.“ Dabei war es den Planern wichtig, die Fußgängerfreundlichkeit der Stadt zu erhalten, die großen äußeren Bezirke aus sowjetischer Zeit besser mit dem alten Stadtzentrum zu verbinden sowie landschaftliche und architektonische Elemente organisch zusammenzubringen. Er illustriert die diversen Planungsschritte anhand von Skizzen, die zur Veranschaulichung für die Bürger*innen von Lwiw erstellt wurden.

Lwiw wird in Zukunft ein noch größerer Eisenbahnknoten

Lwiw wird in Zukunft ein noch größerer Eisenbahnknoten. Bild vergrößern

Lwiw wird in Zukunft ein noch größerer Eisenbahnknoten. Bild vergrößern

Als einige der jüngeren Herausforderungen benennt er die wachsende Einbindung der Dörfer und äußeren Bezirke sowie den Ausbau von Lwiw als Eisenbahnknoten. Letzterer Aspekt sei Teil der EU-Strategie zur Integration von Bahnstrecken in der Ukraine und der Republik Moldau.

Außerdem sei es auch eine Herausforderung, die Verdichtung der Stadt voranzutreiben, ohne dabei Lebensqualität zu verlieren. Hier versuchen die Planer*innen nach dem Prinzip „dicht, aber räumlich korrekt“ zu arbeiten und orientieren sich an der historischen Bebauung aus der Zeit um 1900. Anhand einer klaren Aufteilung von Straßenverläufen, Innenhöfen und Gebäuden sei eine effiziente Nutzung von Räumen für die Bevölkerung möglich. Dem gegenüber stellt er die Plattenbausiedlungen aus sowjetischer Zeit, bei denen keine klare Einteilung sichtbar sei. Gut definierte Raumstandards „sind nichts Besonderes für viele Städte der Europäischen Union […], aber für den postsowjetischen Raum und für die ukrainischen Großstädte schon.“

Die Vorteile der historischen Bebauung in Lwiw gegenüber sowjetischen Plattenbauten zeigen sich gut aus der Vogelperspektive: Wo beginnt der private Raum? Zu welchem Haus gehört der Innenhof?

Die Vorteile der historischen Bebauung in Lwiw gegenüber sowjetischen Plattenbauten zeigen sich gut aus der Vogelperspektive: Wo beginnt der private Raum? Zu welchem Haus gehört der Innenhof? Bild vergrößern

Die Vorteile der historischen Bebauung in Lwiw gegenüber sowjetischen Plattenbauten zeigen sich gut aus der Vogelperspektive: Wo beginnt der private Raum? Zu welchem Haus gehört der Innenhof? Bild vergrößern

Nicht genutzte Räume, wie etwa alte Industriebrachen, werden neugestaltet und in die Stadt integriert. Die Planer gehen dabei schrittweise vor und folgen dabei immer einem integrierten Konzept.

Zur effizienteren Beteiligung der Bevölkerung haben die Planer*innen die Stadt mit ihren offiziell fünf großen Bezirken in kleinere Gebiete mit bis zu 20.000 Menschen eingeteilt. „Das ist [ein] verständlicher Maßstab für alle und [die Bewohner] wissen, welche Prioritäten [man] in ihrem Bezirk setzen müsste. Welche Parks braucht man hier, welche Straßen, was kann man transformieren, was wäre nötig? Wir machen unzählige […] Skizzen und das hilft uns ganz schnell, die verschiedenen Möglichkeiten graphisch zu erklären.“

Anton Kolomieitsev spricht auch über die Herausforderungen im Krieg. „Fast alle Budgetkosten gehen [in den] Krieg. Aber wir [bewirken] mit ganz kleinen Maßnahmen auch einen Effekt, [der zu] positiven Transformationen führt.“ Er veranschaulicht dies am Beispiel begradigter Kopfsteinpflaster, mit denen die Stadt öffentliche Plätze rollstuhlgerechter macht. Eine der großen Herausforderungen sei die Unterbringung und Integration von Geflüchteten in der Stadt. Fünf Millionen Flüchtlinge, so Kolomieitsev, seien seit Beginn des Krieges durch Lwiw gereist, circa 150.000 davon geblieben. Für die erste Unterbringung baute man schnell Containersiedlungen. „Wir haben aber von Anfang an gedacht, dass wir […] Räume schaffen wollen, die geeignet sind für die Menschen, die mit Kindern hierherkommen. [Dass] einige Familien besseren Komfort brauchen, […] die Familien mit neugeborenen Kindern und die schwangeren Frauen.“

Moderne Holzhäuser, Gemeinschaftsflächen, viel Grün. Beim Wiederaufbau der Ukraine geht es auch um die Steigerung der Lebensqualität.

Moderne Holzhäuser, Gemeinschaftsflächen, viel Grün. Beim Wiederaufbau der Ukraine geht es auch um die Steigerung der Lebensqualität.

Moderne Holzhäuser, Gemeinschaftsflächen, viel Grün. Beim Wiederaufbau der Ukraine geht es auch um die Steigerung der Lebensqualität. 

So entstand der „Unbroken Mothers“-Komplex. In Bildern veranschaulicht er den Teilnehmenden, was in Lwiw auf die Beine gestellt wurde: moderne Holzhäuser mit Gemeinschafts- und Kinderräumen, ein kleiner angelegter See, neue Spiel- und Sportplätze. So wurde ein kleines vergessenes Stadtgebiet, auf dem laut Kolomieitsev vorher nur Bauschutt abgeladen wurde, zu einem schönen neuen Zuhause für die geflüchteten Mitbürger*innen. Für diesen Einsatz habe Lwiw dieses Jahr den „EUmies Award“ (Externer Link) gewonnen.

Doch dies sei nur ein Teil der städtischen Bemühungen im Krieg.


Von Unbroken Mothers zu Unbroken

Anton Kolomieitsev präsentiert das kommunale Projekt „Unbroken“, das einen ganzen Stadtteil rund um das städtische und größte Krankenhaus der Ukraine umfasse und als eigenes Ökosystem geplant werde. Laut Kolomieitsev seien seit Kriegsbeginn 20.000 Patienten dort versorgt worden. Mit Unbroken werde jenseits akuter medizinischer Versorgung nun auch Rehabilitation und Reintegration mitgedacht.

Eine Brücke verbindet nun das landesweit größte Krankenhaus mit einem modernen Rehabilitationszentrum. 

Eine Brücke verbindet nun das landesweit größte Krankenhaus mit einem modernen Rehabilitationszentrum.

Eine Brücke verbindet nun das landesweit größte Krankenhaus mit einem modernen Rehabilitationszentrum. 

Ein Gebäude direkt neben dem Krankenhaus wurde beispielsweise mit Hilfe europäischer Partnerstädte (unter anderem Freiburg und Würzburg) und privater Unternehmen zu einem modernen Rehabilitationszentrum umgebaut und durch einen oberirdischen Tunnel mit dem bestehenden Krankenhaus verbunden. Neben dem Rehabilitationszentrum werde auch noch ein neues Operationsgebäude vom berühmten Architekten Shigeru Ban geplant.

Außerdem wurde bereits eine Prothesenwerkstatt mit Unterstützung durch die deutsche Bundesregierung und die Stadt Freiburg errichtet. Auf 1.000 Quadratmetern werden nun rund 1.000 Prothesen pro Jahr produziert.

Ein unverzichtbares Material bei „Unbroken“ ist laut Kolomieitsev Holz. Es verbinde nicht nur alle Konstruktionen und Gebäude oder ermögliche die umweltfreundliche Aufstockung bestehender Gebäude, sondern helfe auch mit Blick auf Geschwindigkeit und Reduktion von Kosten. So können viele Elemente vorgefertigt und mit einem geringeren Bedarf an Bauarbeitern verarbeitet werden. Auch die Baustellen selbst seien dadurch spürbar leiser und sorgten somit für eine Entlastung bei den Patient*innen.

Damit endet das Projekt aber auch nicht: Neue Straßen und Straßenbahnlinien oder auch die Errichtung kommunaler Wohnbauten werden „Unbroken“ erst vervollständigen. Die Planung für ein weiter greifendes Konzept zur Einbindung des Stadtteils mit „Unbroken“ als „Herzstück“ sei schon im Gange, lässt Kolomieitsev durchblicken.

Das Lviv Urban Forum hat 2024 mehr als 1.300 Teilnehmer*innen angezogen.

Das Lviv Urban Forum hat 2024 mehr als 1.300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer angezogen.

Das Lviv Urban Forum hat 2024 mehr als 1.300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer angezogen.

Nach der Vorstellung dieses Großprojekts zeigt er noch einige kleinere Projekte. So etwa die Restauration und Umgestaltung historischer Gebäude einer alten Marmeladenfabrik in ein neues Kulturzentrum oder die Schaffung mehrerer Erinnerungsorte.

Lwiw dient aber nicht nur als gutes Beispiel für die Planung und Umsetzung integrierter Stadtentwicklungskonzepte oder Umnutzung und Verdichtung bestehender Flächen und Gebäude. Es ist auch Veranstaltungsort des „Lviv Urban Forum (Externer Link)“, das Ende Juni 2024 stattgefunden hat.

Verantwortung übernehmen: Herausforderungen in der Stadtentwicklung in der Kriegszeit

Präsention von Anton Kolomieitsev

Dateityp PDF | Dateigröße 11 MB, Seiten 121 Seiten

Die Idee dahinter erklärt Kolomieitsev wie folgt: „Wir dachten, dass wir die Themen nicht morgen, sondern schon heute diskutieren sollten, wie wir unsere Städte in der Ukraine während des Krieges und nach dem Krieg gestalten sollten.“ Rund 1.300 Teilnehmer*innen lauschten den mehr als 40 Sprecher*innen, von internationalen Größen der Architekturszene über ukrainische Bürgermeister*innen bis hin zu lokalen Stadtplaner*innen. So wurden dort auch einige Planungsprozesse gemeinsam mit dem Publikum angestoßen.

Insgesamt habe das Forum viele Emotionen und Inspirationen geboten, so Kolomieitsev, was vor allem für die jungen ukrainischen Studierenden in den Zeiten des Krieges wichtig sei.

Bild aus der Präsentation von Anton Kolomieitsev
Mitschnitt der Fachveranstaltung zu „Integrierte Stadtentwicklung in der Ukraine. Hintergründe und Herausforderungen“